Die Mutter legt das Baby auf den Sitz neben sich, es schläft ein. Sie telefoniert mit einer Freundin und ich erfahre dabei unfreiwillig recht intime Einzelheiten aus dem Leben der
beiden. Gott, ist mir das peinlich. Ich schaue krampfhaft aus dem Fenster. Da wird das Baby plötzlich unruhig und macht sich durch leichtes Nölen bemerkbar. Die Mutter sagt "Wart' mal kurz"
ins Handy, legt es zur Seite und kramt in ihrer Handtasche. Neugierig schaue ich nun wieder hin: Zum Vorschein kommt ein Fläschchen mit Globuli. Sie schüttet ein paar davon in ihre Hand,
vielleicht sechs oder sieben, und steckt sie dem Baby Stück für Stück in den Mund. Dann telefoniert sie wieder weiter.
Das Baby wirkt nun recht zufrieden. Kein Wunder, es hat gerade eine ordentliche Ladung süßen Zuckers in den Mund bekommen, das schmeckt natürlich gut! Der verantwortungsbewusste Homöopath
in mir meldet sich: Soll ich was sagen? Wie erkläre ich ihr, dass auch Globuli Arzneimittel sind, mit denen man mit Bedacht umgehen sollte?
Natürlich ist Homöopathie innerhalb gewisser Grenzen wunderbar zur Selbstbehandlung und zur Anwendung innerhalb der Familie geeignet. Doch unser Körper kommt mit vielen kleineren
Beschwerden ganz gut alleine zurecht, ohne dass man gleich Globuli geben müsste: etwa Chamomilla schon bei leichten Zahnungsbeschwerden, Ferrum phosphoricum oder Belladonna selbst bei niedrigem
Fieber und Arnica nach jedem Hinfallen, jedem kleinen Sturz. Wenn man Kindern schon beim kleinsten Unbehagen homöopathische (oder andere) Arzneimittel verabreicht und ihnen nichts zumutet,
konditioniert man sie regelrecht darauf, immer gleich nach Medikamenten zu greifen. Im Endeffekt fördert dies Sucht-Neigungen und schwächt das Vertrauen in den eigenen Körper.
Ich möchte diesen jungen Müttern gerne zurufen: "Hey Leute, jetzt werdet mal wieder cool! Wir Säugetiere haben schon ein paar Millionen Jährchen Evolution hinter uns! Wir haben dabei
die Fähigkeit zur Selbstheilung und zur Schmerztoleranz entwickelt. Traut Euren Kindern zu, dass sie das auch können und zumindest mit kleinen Beschwerden umgehen lernen. Helft ihnen, es selbst
hinzukriegen und dadurch Vertrauen in sich zu entwickeln - in dem Ihr ihnen Zumutbares auch wirklich zumutet!"
Dieses Kind, das mir hier gegenüberliegt, sah mir nicht nach heftigen Schmerzen aus, es hat nur etwas genölt. Wenn es denn wirklich Zahnungsschmerzen hatte, dann hätten
auch nicht-medikamentöse Hilfsmittel Linderung gebracht, ein Beissring etwa. Auf Dauer würde es so eine gewisse Schmerz-Toleranz und Widerstandsfähigkeit entwickeln. Und wenn eine Mama
nach einem kleinen Sturz statt Arnica-Globuli einfach nur Zuwendung geben würde, das aufgeschlagene Knie reinigen, wenn nötig desinfizieren, dann darüberpusten und "Heile, heile Segen" sprechen,
dann würde das Kind dabei automatisch lernen, wie man das macht und dazu auf ganz körperliche Art Trost erfahren - einfach weil die körperliche Nähe gut tut. Das würde dann auch noch das
Vertrauen in die Mutterbindung stärken. Das können Arzneimittel gar nicht leisten!
Und noch etwas: Wenn wir wahllos immer gleich Arzneimittel geben, dann verschwindet unser Sinn für den Unterschied zwischen selbstheilenden und behandlungsbedürftigen Beschwerden. Wir
greifen dann zusehends automatisch zur Medizin, anstatt auf unsere Fähigkeiten zur Selbstheilung und Selbstregulation zu vertrauen.
Solche Gedanken rauschen mir durch den Kopf, und ich will schon ansetzen, die Mutter anzusprechen, da ertönt es aus dem Lautsprecher: " Nürnberg Hauptbahnhof, Ausstieg in Fahrtrichtung
rechts".